|   Andacht

Menschwerdung

Andacht zum Christfest

von Pfarrer Christian Schad

In ihm liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Wie ihr nun angenommen habt den Herrn Christus Jesus, so lebt auch in ihm, verwurzelt und gegründet in ihm und fest im Glauben, wie ihr gelehrt worden seid, und voller Dankbarkeit. Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, die der Überlieferung der Menschen und den Elementen der Welt folgen und nicht Christus. Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig, und ihr seid erfüllt durch ihn, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist.

Kolosser 2, 3 (4–5) 6–10

Der ganze Reichtum der vollen Erkenntnis des Geheimnisses Gottes – alle Schätze der Weisheit – die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig: Die überschwänglichen Worte des Kolosserbriefs greifen hoch. Denn sie wollen uns mitnehmen, mitnehmen in ihren eigenen Raum. Wo aber kommen wir hin, wenn sie uns fortgetragen haben, fort von unseren selbst erdachten Vorstellungen von Gott – hinein in die funkelnde Bildwelt dieser Worte?

Wir kommen an bei einer einzigen Person, bei Jesus von Nazareth, genauer: beim Kind in der Krippe! Hier, bekennt der Verfasser des Kolosserbriefs, sind konzentriert, hier sind zu finden, zu haben, zu holen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Auf etwas ungemein Wertvolles werden wir somit aufmerksam gemacht, werden unsere Augen und unser Verstand gesammelt, auf etwas aber, das nicht ohne Weiteres zu erkennen ist, denn – verborgen – liegen in Christus alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Freilich: nicht schlechthin verborgen, sondern präzise, nämlich für immer in seiner Menschlichkeit, verborgen – und also in Jesus Christus offenbar. Entsprechend heißt es wenige Verse vor unserem Textabschnitt: „das Geheimnis, das verborgen war seit ewigen Zeiten und Geschlechtern, nun aber offenbar ist in seinen Heiligen (den Glaubenden). Denen wollte Gott kundtun, was der herrliche Reichtum dieses Geheimnisses ist, nämlich Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit“ (Kolosser 1, 26f.). Nannten die Philosophen seit jeher Gott „den Jenseitigen“, allem und allen – erst recht uns Menschen – weit überlegen, so lenken uns die großen Worte des Kolosserbriefs zurück in die heilige, aber nur allzu menschliche Nacht in Bethlehem. In einer Situation, wie man sie sich irdischer nicht denken kann, genau dort ist der ganze Reichtum der vollen Erkenntnis des Geheimnisses Gottes versammelt. Alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis: hier sind sie zu finden – die ganze Fülle der Gottheit, verborgen unter ihrem Gegenteil, nämlich in diesem Kind in der Krippe, und gerade so offenbar.

Der Weihnachtschrist Martin Luther kann darum sagen: „Wir fassen keinen anderen Gott als den, der in jenem Menschen (Jesus von Nazareth) ist, der vom Himmel kam. Ich fange bei der Krippe an!“ Spekulieren kann man über Gott viel. Nur „fassen“, begreifen, lässt er sich allein in der Gestalt einer wirklichen, irdischen Lebensgeschichte. Jener Lebensgeschichte des Jesus von Nazareth, die mit seiner Geburt in der Krippe beginnt. Von der Kehrseite her macht er sich bekannt. Der ewigreiche Gott wird „elend, nackt und bloß“ (EG 27, 2) und kommt uns zeitlichen Menschen so unüberbietbar nah. Seine Bewegung führt von oben nach unten, aus dem Unfassbaren ins Fassbare, Verletzliche, Unscheinbare eines Menschenkinds, und wir haben Teil daran. Auf welche Weise? Martin Luther antwortet darauf so: Gott wurde Mensch, damit er „uns aus unseligen und hochmütigen Göttern zu wahren Menschen macht“.

Die Pointe der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ist die Menschwerdung des Menschen! Wenn wir uns also, verwurzelt und gegründet in Christus, auf den Weg Gottes aus der Höhe in die Niedrigkeit locken lassen, dann wachsen unsere Achtsamkeit für das Geringe und Unscheinbare – und unser Augenmerk für die, die wir leicht übersehen. Unaufdringlich und behutsam wird sich unser Blick auf das richten, was unten ist, und auf jene, die am Boden liegen. Dort werden wir sie nicht liegen lassen, sondern ihnen aufhelfen, sie aufrichten, ihnen ihre Würde zurückgeben. Über nichts und niemanden mehr werden wir einfach so hinweggehen. Denn Gott, der Menschgewordene, spricht unsere Sprache, begleitet uns, lebt seine Liebe in unser Leben hinein – auch im Gang durch Anfechtungen, durch unerbittliche Fragen, durch die Festtage und dann auch wieder durch unseren Alltag.

Doch ein Glück: Es „wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld. Beglänzt von seinem Lichte hält euch kein Dunkel mehr, von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her“ (EG 16, 4).

Dr. h.c. Christian Schad war von 2008 bis 2021 Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche der Pfalz, seit 2021 ist er Präsident des Evangelischen Bundes.

Gebet

Ich steh an deiner Krippen hier,
o Jesu, du mein Leben;
ich komme, bring und schenke dir,
was du mir hast gegeben.
Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn,
Herz, Seel und Mut, nimm alles hin
und lass dir’s wohlgefallen. Amen.
(EG 37, 1)

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Sie zünden Kerzen an: Christliche Touristen in der Geburtskirche in Bethlehem. Foto: epd
Sie zünden Kerzen an: Christliche Touristen in der Geburtskirche in Bethlehem. Foto: epd