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Verantwortung liegt jenseits der Regeln

Was die zunehmende Digitalisierung für die ethische Bildung von Urteilen bedeutet - von Reiner Anselm

Digitalturbo. Nicht erst seit der Corona-Krise, seither aber umso intensiver, bereichert dieser Ausdruck den politischen Wortschatz von Bildungs- und Wirtschaftspolitikern, allen voran den von Markus Söder. Und in der Tat hat die Pandemie die Digitalisierung als vierte industrielle Revolution deutlich vorangetrieben. Ungeachtet aller größeren und kleineren Zusatzschübe, die der Digitalturbo noch gebrauchen könnte, ist zunächst festzuhalten: Diese Entwicklungen haben es möglich gemacht, Interaktions- und Arbeitsprozesse auch unter den Bedingungen der Pandemie in einem Maß aufrecht zu erhalten, das noch vor wenigen Jahren als ganz unmöglich erachtet worden wäre. Dies gilt nicht nur für das Wirtschaftsleben und den Bildungssektor, sondern auch für das kirchliche Leben, von den Synodentagungen bis zu den Gottesdiensten.

Je stärker die Digitalisierung im Alltagsleben Raum gegriffen hat, umso deutlicher werden aber auch die Nebenwirkungen, die mit der digitalisierten Kommunikation einhergehen: Digitalisierte Kommunikation ist trotz aller Bemühungen um Emotionalität und Authentizität, die mit der Verwendung von Bildern und Videos sowie von Echtzeitplattformen suggeriert wird, eine standardisierte, eindimensionale Kommunikation. Welche Konsequenzen sich aus diesem Prozess für die Bildungs- und, was den schulischen Bereich angeht, die entsprechenden Sozialisations- und Entwicklungsprozesse ergeben, welche Transformationen bereits eingesetzt haben, ist schon seit einiger Zeit Gegenstand wissenschaftlicher Studien. Ebenso wird die Debatte um die Möglichkeiten und Grenzen von Homeoffice und Teleworking breit in den entsprechenden Fachdisziplinen geführt. Dagegen gibt es bislang nur wenige Ansätze, die die Folgen der verstärkten Digitalisierung für die Ethik in den Blick nehmen.

Diese Diagnose gilt selbstverständlich nicht für all diejenigen Beiträge, die die Digitalisierung und die damit verbundenen Möglichkeiten zum Gegenstand einer entsprechenden anwendungsorientieren Ethik machen. Gerade die Diskussion um eine Ethik der KI, um die Bewertung von autonomen Systemen und Algorithmen ist in vollem Gang, auch eine intensive Auseinandersetzung mit den Folgen für die Gesellschaftsentwicklung.

Wenn ich hier die Konsequenzen der Digitalisierung für die Ethik in den Blick nehmen möchte, dann möchte ich einen anderen Aspekt in den Vordergrund stellen: Was bedeutet die Digitalisierung für die ethische Urteilsbildung selbst? Charakteristisch für digitalisierte Kommunikationsprozesse ist ja, dass die vielfältige Interaktion zwischen Einzelnen auf die Wahrnehmung einer spezifischen Funktion reduziert wird, die Informationsvermittlung. In dieser Konzentration liegt zugleich eine besondere Stärke, die äußerst positive Aspekte für die Ethik hat. Geht man nämlich davon aus, dass ethische Urteile stets gemischte Urteile aus Situationsbeschreibung und -deutung darstellen, dann lässt sich zunächst festhalten, dass die Digitalisierung die Präzision der Situationsanalyse deutlich erhöht hat.

Durch die leichte Zugänglichkeit von Informationen und die Möglichkeit, diese Informationen unproblematisch mit anderen zu teilen und abzugleichen, kann die Kontingenz der Situationswahrnehmung deutlich reduziert werden. Sicherlich stellt die Auswahl der Quellen nach wie vor eine subjektive Entscheidung dar. Dennoch aber ermöglicht die Digitalisierung den so noch nicht gekannten Abgleich von Sachinformationen. Um festzustellen, was der Fall ist, stehen nun sehr viel mehr Perspektiven zur Verfügung.

An diese Stärke muss sich aber zugleich auch eine kritische Rückfrage richten: Wie kann der Gefahr begegnet werden, dass die Allverfügbarkeit von Informationen an die Stelle der Bewertung tritt? Dieselbe Fragerichtung lässt sich verallgemeinernd auch so formulieren: Was bedeutet die wachsende Relevanz von computergestützten, auf dem Abarbeiten von mehr oder weniger vorgegebenen Handlungsregeln basierenden Systemen für die Ethik selbst? Welche Konsequenzen ergeben sich für die Modellierung ethischer Problemlagen angesichts der glatten, klaren Ästhetik, die die auf standardisierbaren Regeln und diskreten Unterscheidungen basierende digitale Wirklichkeitskonstruktion vermittelt und die doch in erkennbarem Widerspruch steht zu der Stetigkeit und Unabgeglichenheit der analogen Weltwahrnehmung?

Die Problematik für die Ethik, die sich aus einer solchen Fokussierung ergibt, wird dann noch plastischer, wenn man sich verdeutlicht, dass Vertrauen als elementare Kategorie in einer komplexen sozialen Welt nur durch die Kombination von funktional-spezifischer und diffuser, lebensweltlicher Kommunikation aufgebaut werden kann. Natürlich ist die Präzision von Sachinformationen und damit eine fachspezifische Expertise unabdingbar. Wer entscheiden möchte, muss wissen, was der Fall ist. Aber je vielfältiger die zur Verfügung stehenden Informationen sind, desto wichtiger wird auch die – notgedrungen subjektiv gefärbte – Interpretation der Fakten.

Dabei gilt: Je unübersichtlicher Problemlagen werden, umso wichtiger ist, dass mir die Persönlichkeit eines professionell Agierenden Anhaltspunkte dafür gibt, dass ich seiner funktionsspezifischen Analyse vertrauen kann. Und diese Persönlichkeit ist eben nur dann zugänglich, wenn nicht nur, funktional differenziert, über Fakten, sondern auch diffus über Einschätzungen und Haltungen, über die Lebenswelt diskutiert werden kann.

Diese Frage scheint mir deswegen von besonderem Interesse, weil ich vermute, dass die Digitalisierung einen Trend der derzeitigen moralischen Theoriebildung weiter verstärken wird: Die Fokussierung auf das moralisch Richtige und damit die klare, regelorientierte Urteilsbildung zu Lasten des moralisch Guten. Diese Entwicklung würde jedoch die derzeit schon bestehenden Probleme der Ethik noch verstärken, die daraus resultieren, dass die Konflikte sich nur selten auf der Ebene der grundsätzlichen Handlungsregeln abspielen, sondern dort, wo es um die Bestimmung von Zielen und damit um die leitenden und oft konfligierenden Güter geht. Dabei liegt die große Herausforderung darin, dass sich die Abwägungsprozesse zwischen solchen konfligierenden Gütern kaum in Regeln fassen lassen.

Anders als in der digitalen Welt, die über die Repräsentation der Welt in Daten, die für maschinelle Systeme der einzige Weg zu Interaktion mit ihr sind, proklamiert, dass alles miteinander verrechenbar sei, gilt für die erlebte Lebenswirklichkeit, dass es Konflikte und Dilemmata gibt, die sich eben nicht verrechnen lassen. Nicht ohne Grund haben Theoretiker wie Bernard Williams daher gefolgert, bei der Ethik handele es sich nicht um eine exakte Wissenschaft. Und in der Tat: Die Wertfreiheit der Wissenschaft, die Max Weber postulierte, hätte die Ethik selbst erreicht, wenn sie sich nur auf die Frage der Regeln konzentriert.

Gegenüber einer solchen Reduktion muss es der Ethik auch darum gehen, die Bereiche zu reflektieren, die Weber nur der individuellen Entscheidung überantworten mochte, und zwar so, dass durch ihre Reflexionen die Bedingungen und Plausibilisierungen solcher Entscheidungen offengelegt, geformt und weitertradiert werden. Denn Ziele speisen sich zum größten Teil aus Narrationen, sie sind das Produkt von gemeinsamer Geschichte und geteilten Geschichten. Die Verständigung über die Ziele moralischer Handlungen ist es, die die eigentliche Herausforderung der Ethik ausmacht. Hier liegt der Stoff für Konflikte, hier liegen aber auch die Motivationskräfte für ein moralisches Handeln.

Führt man sich das vor Augen, dann ergeben sich zugleich Anhaltspunkte, warum sich intuitiv Widerstände einstellen, Entscheidungen, die wir als ethische wahrnehmen, autonomen oder teilautonomen, maschinellen Systemen zu überlassen. Autonome Systeme agieren regelbasiert. Dieses Befolgen von Regeln, auch das Weiterentwickeln von Regeln anhand vorgegebener Algorithmen, können Maschinen deutlich besser als Menschen. Wenn sie ihr Verhalten danach steuern, etwa im Fall des autonomen Fahrens, können sie auch für Menschen unerreichbare Optimierungen vornehmen, und zwar sogar hinsichtlich der Abwägung in Situationen, die dilemmatisch erscheinen: Während es für Menschen unmöglich ist, die Menge von Informationen zu verarbeiten, die etwa notwendig wäre, um zwischen zwei Personengruppen, auf die ein Fahrzeug bei einem Unfall notwendig zufährt, regelbasiert zu unterscheiden, ist dies für ein autonomes System im Grunde unproblematisch. Die notwendigen Informationen vorausgesetzt, könnte ein autonomes System eine Vielzahl von Faktoren gegeneinander abwägen und so etwa zu einer Minimierung der Opfer kommen. Gleiches gälte im Übrigen auch für autonome Waffensysteme.

Dass sich bei diesen Szenarien ein ungutes Gefühl einstellt, hängt damit zusammen, dass wir in unserer Alltagspraxis ethische Entscheidungen gerade nicht auf der Grundlage von Regeln und Informationen, sondern auf der Basis gebildeter Intuitionen, mit denen wir Regeln und Informationen evaluieren, treffen. Mit einer Unterscheidung von Johannes Fischer gesprochen: Wir entscheiden uns vor Gründen, nicht auf der Basis von Gründen. Das bedeutet: Regelbasierung ist gerade keine Grundlage für ethische Handlung, ihr fehlt nämlich genau das, was eine Handlung zu einer ethischen macht: Die Freiheit, sich auch anders entscheiden zu können, kreativ und vor allem auch fehlbar. Nur auf der Grundlage dieser Freiheit ist es etwa sinnvoll, dem Handelnden auch die Verantwortung für sein Handeln zuzuschreiben. Bei einer strikten Entscheidung auf der Basis von Gründen ist das in dieser Weise nicht möglich; es ist der klassische Fall der Verantwortungsdiffusion, den sich autoritäre Systeme zu Nutze machen.

Nun wäre es völlig vermessen, eine Regelorientierung mit einem autoritären System gleichzusetzen, die Struktur der Problematik aber bleibt gleich – und sollte in meinen Augen deutlich mehr Beachtung finden. Denn ungeachtet aller Vielfältigkeit und Diffusität, die dem Begriff der Digitalisierung ebenso zu eigen ist wie dem der Kompetenz, lässt sich doch eines klar herausheben: Digitalisierung modelliert die Welt nach Funktionen, nicht nach Verantwortlichkeiten.

Es könnte sein, dass diese Perspektive längst eingedrungen ist in unser Selbstverständnis, in der Weise nämlich, dass wir uns selbst sehr viel mehr als regelbasierte Akteure denn als freie menschliche Subjekte verstehen. Manche Andeutungen und Ahnungen in aktuellen ethischen Debatten führen in diese Richtung, wenn etwa davon gesprochen wird, dass eine Veränderung rechtlicher Parameter im Blick auf den ärztlich assistierten Suizid notwendig bestimmte Verhaltensformen nach sich ziehen werde. Mit einer solchen Vermutung aber verändert sich das Bild, das wir von uns selbst haben, nachhaltig. An die Stelle freier, verantwortlicher Subjekte werden wir zu denen, die sich einzufügen haben – und doch sich viel häufiger noch selbst einfügen – in die Strukturen und Regeln, denen zu entsprechen uns vorgegeben wird – und denen wir auch selbst entsprechen wollen. Dass diese Regelbasierung der Ethik auch durch die Figur des homo oeconomicus befördert wird, der als Vorbild für die Modellierung gesellschaftlicher Zusammenhänge in den letzten Jahrzehnten in den Mittelpunkt gerückt ist, sei nur am Rande erwähnt.

Betrachtet man aus dieser Perspektive die Herausforderungen, die die Digitalisierung an die Ethik selbst stellt, so besteht diese zunächst darin, die Auswirkungen, die die Digitalisierung auf die Struktur ethischer Entscheidungen haben könnte, präzise zu beobachten und zu beschreiben. Darüber hinaus gilt es darauf hinzuweisen, dass ethische Urteilsbildung eine Kunstlehre darstellt, bei der, in der Tradition der Tugendlehre, Fakten, Regeln und Ziele miteinander abgewogen und einer Entscheidung zugeführt werden müssen. Diese Entscheidung ist nie vollkommen standardisierbar, sie bleibt an die Perspektive der Entscheidenden gebunden. Und sie wird in den seltensten Fällen zu einer glatten Lösung führen, sondern stets etwas Vorläufiges, Widerständiges, Kompromissbehaftetes haben.

Ein solches Handeln ist kein selbstherrliches, an der individuellen Willkür orientiertes Agieren, sondern durchaus ein Handeln vor Gründen, eines also, das sich rechtfertigen muss, wenn der Einzelne auf sein Verhalten angesprochen werden kann. Evangelische Ethik wird diese Unhintergehbarkeit des Einzelnen herausstellen und zugleich sich daran beteiligen, die spezifischen Ideen, Orte und Praktiken, die eine christliche Weltsicht formen, zu tradieren. Ein besonderes Augenmerk wird sie dabei auf zweierlei legen: Auf das Bewussthalten der eigenen Fehlbarkeit, die mit der Fähigkeit zu Freiheit und Verantwortung einhergeht, sowie an der Notwendigkeit der Initiierung von Bildungsprozessen, die nicht an der Regelhaftigkeit, sondern an der Ausbildung einer freien und sich aus Verantwortung handelnden Persönlichkeit orientiert sind.

Dr. Reiner Anselm ist Professor am Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik an der Evangelisch-Theologische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Den Vortrag hielt er in der Vortragsreihe "Ethik der Digitalisierung in evangelischer Perspektive" der Evangelische Akademie Loccum im Januar 2021.

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Information allein reicht nicht: Bildung muss verantwortliche Persönlichkeiten zum Ziel haben. Foto: epd
Information allein reicht nicht: Bildung muss verantwortliche Persönlichkeiten zum Ziel haben. Foto: epd