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Unbestimmte Unlustgefühle reichen nicht

Die Gewissensfreiheit ist eine sehr subjektiv bestimmte Grundrechtsnorm - Von Christoph Goos

„Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“, heißt es in Artikel 4 Absatz 1 des Grundgesetzes. Hier hat also nicht nur die Religionsfreiheit, sondern auch die Gewissensfreiheit ihren grundrechtlichen Ort. Dass niemand zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden darf, gewährleistet Artikel 4 Absatz 3; wer ihn aus Gewissensgründen verweigert, kann nach Maßgabe eines Gesetzes, das die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen darf, zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden (Artikel 12a Absatz 2).

Rechtsprechung und Literatur verstehen die Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht, das vom Kriegsdienstverweigerungsrecht und der Religionsfreiheit zu unterscheiden ist und auch ethische Entscheidungen in anderen Kontexten umfasst, die nicht religiös begründet sind. Im Zentrum der Aufmerksamkeit von Rechtsprechung und rechtswissenschaftlicher Literatur steht sie – anders als die Religionsfreiheit – aber eher selten.

Auch im Suizidhilfe-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 kommt die Gewissensfreiheit nur am Rande vor. Der Zweite Senat bekräftigt in der Urteilsbegründung, dass „nicht bereits jede relative Entscheidung über die Zweckmäßigkeit menschlichen Verhaltens aufgrund ernsthafter und nachdrücklicher Auffassung von guter politischer Ordnung und Vernunft, sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Nützlichkeit“ eine grundrechtlich relevante Gewissensentscheidung ist, „sondern ausschließlich die ernste sittliche, an den Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, sodass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte“. Die aufgrund einer solchen Gewissensentscheidung erfolgende Gewährung, Verschaffung oder Vermittlung einer Gelegenheit zur Selbsttötung aber, die als solche gerade nicht von einer Wiederholungsabsicht getragen sei, sei keine „geschäftsmäßige“ Förderung der Selbsttötung und werde von Paragraf 217 Absatz 1 des Strafgesetzbuches erfasst.

Diese kurze Passage der Entscheidung ist mit Recht kritisiert worden, da es sich nicht definitorisch ausschließen lässt, dass Ärztinnen und Ärzte die unbedingte Verpflichtung empfinden und zum Ausdruck bringen, nicht nur einmalig, in einem bestimmten Einzelfall, sondern auch in vergleichbaren Konstellationen Suizidhilfe zu leisten. In solchen Fällen ist die Gewissensfreiheit dann doch maßstäblich für die Beurteilung eines strafbewehrten Verbots der „geschäftsmäßigen“, auf Wiederholung angelegten Suizidhilfe.

An anderer Stelle hält der Zweite Senat fest, dass Suizidwillige „die mangelnde individuelle ärztliche Bereitschaft zur Suizidhilfe […] als durch die Gewissensfreiheit seines Gegenübers geschützte Entscheidung grundsätzlich hinzunehmen“ haben. Auch diese grundrechtliche Einordnung greift zu kurz: Die Verweigerung von Suizidhilfe ist nämlich nur dann vom Schutzbereich der Gewissensfreiheit erfasst, wenn sie Ergebnis einer Gewissensentscheidung ist, für die nach dem oben Ausgeführten kennzeichnend ist, dass sie innerlich als „unbedingt verpflichtend“ erfahren wird. Verweigern Ärztinnen und Ärzte die von ihnen erbetene Suizidhilfe aus anderen Gründen, etwa weil sie sie als unärztliches Handeln ablehnen oder sie mit ihrem Glauben nicht vereinbaren können, sind etwaige Hilfeleistungspflichten an der Berufsfreiheit, der Religionsfreiheit oder anderen Grundrechten, aber nicht an der Gewissensfreiheit zu messen.

Festzustellen ist zunächst, dass der verfassungsrechtliche Gewissensbegriff in den Debatten um die Kriegsdienstverweigerung geprägt wurde. In einer Entscheidung aus dem Jahr 1960, in der sich das Bundesverfassungsgericht erstmals ausführlich mit dem Kriegsdienstverweigerungsrecht auseinanderzusetzen hatte, findet sich die bis heute gebräuchliche, vom Bundesverfassungsgericht 2020 bekräftigte Definition der Gewissensentscheidung. Sie mag „tautologisch“ sein, macht aber hinreichend deutlich, dass die Gewissensentscheidung eine Entscheidung für das „Gute“ ist (“an den Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung“), dass es entscheidend – und auch in gewisser Weise objektivierbar – auf die Stärke des Verpflichtungsempfindens ankommt (“unbedingt“) und dass ein Handeln gegen die Gewissensentscheidung denkbar ist (letzter Halbsatz).

Niklas Luhmann erkannte die Funktion der Gewissensfreiheit Mitte der 1960er Jahre darin, die individuelle Verschiedenheit der Gewissensansprüche zu institutionalisieren und konsistente moralische Selbstdarstellung und Selbstverantwortung zu ermöglichen – durch Schaffung zumutbarer Handlungsalternativen. Auf der Staatsrechtslehrertagung 1969 warb Berichterstatter Ernst Wolfgang Böckenförde dann erfolgreich für ein Verständnis der Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit gemäß der individuellen Gewissensentscheidung, da man sie sonst auf ein Maß reduziere, „das auch jeder Diktator gewähren kann, sofern er sich nur Orwell’scher Methoden enthält“: Bei unbedingten Gewissensgeboten dürfe der Staat keinen unbedingten Gehorsam fordern, sondern müsse entpflichten oder Ungehorsam tolerieren. Die Schaffung „lästiger Alternativen“ erprobe die Ernsthaftigkeit des Gewissenskonflikts und vermeide ungerechtfertigte Privilegierungen.

Die Gewissensfreiheit wurde damit zur „Kollisionsnorm“, die in Situationen ernster Gewissensnot – unabhängig von religiösen oder weltanschaulichen Motiven – eine Suspendierung von allgemeinen Verpflichtungen der Rechtsordnung ermöglicht und unter Umständen auch erzwingt. Unbestimmte Unlustgefühle reichen nicht, um die Gewissensfreiheit zu aktivieren, aber auch das drohende „Zerbrechen“ an der Entscheidung wird spätestens seit einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1989 zu Recht nicht mehr gefordert.

Die Gewissensfreiheit ist wohl die am meisten subjektiv bestimmte Grundrechtsnorm. In der Literatur gab es zahlreiche Versuche, den Schutzbereich der Gewissensfreiheit zu verengen, etwa durch die Begrenzung auf Unterlassungen oder die eigene Verantwortungssphäre, und auch das Bundesverfassungsgericht tat sich zunächst schwer mit dem Grundrecht. An das Gericht herangetragene Sachverhalte wurden entweder am Maßstab anderer Grundrechte gelöst, definitorisch aus dem Schutzbereich der Gewissensfreiheit ausgeschlossen, oder die Gewissensfreiheit musste in der Abwägung anderen Belangen Platz machen.

In der fachgerichtlichen Rechtsprechung der letzten Jahre finden sich – neben Kuriositäten wie dem Fall eines Call-Center-Mitarbeiters, der sich sehr zum Verdruss seines Arbeitgebers stets mit den Worten „Jesus hat Sie lieb!“ von seinen Kunden verabschiedete – Auseinandersetzungen über die Zwangsmitgliedschaft in Jagdgenossenschaften bis hinauf zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die zu einer Änderung des Bundesjagdgesetzes führten, eine umstrittene Entscheidung zur Befehlsverweigerung eines mit einem IT-Projekt befassten Soldaten, eine Entscheidung, in der der Bundesgerichtshof betont, dass die Gewissensfreiheit Pflegenden nicht das Recht gibt, eine Wachkomapatientin gegen ihren Willen zu ernähren, und zuletzt die bereits erwähnte Suizidhilfe-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der die Gewissensfreiheit der verfassungsbeschwerdeführenden Ärztinnen und Ärzten allerdings nur am Rande behandelt wird, und das aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes) abgeleitete Recht auf selbstbestimmtes Sterben im Zentrum der Überlegungen steht.

Da die Gewissensfreiheit nur als verpflichtend empfundene persönliche Entscheidungen erfasst, ist sie „ihrem Wesen nach“ (Artikel 19 Absatz 3 Grundgesetz) nicht auf Personenmehrheiten und Organisationen anwendbar. Gemeinsamer gewissensmotivierter Protest aktiviert die Gewissensfreiheit nicht, kann aber Gegenstand der Meinungs- und der Versammlungsfreiheit sein. Weil die Dogmatik der Gewissensfreiheit ganz auf den individuellen Gewissenskonflikt konzentriert ist, erweist sie sich auch als unergiebig für die Beurteilung staatlicher Einflussnahme auf die Gewissensbildung etwa in der Schule, im Strafvollzug, in der Schwangerschaftskonfliktberatung oder bei der Tätigkeit von Ethikräten. Gewissensbildung spielt sich im Vorfeld der Gewissensfreiheit ab und ist Thema anderer Grundrechte.

Wo Rechts- und Gewissensgebot kollidieren, bildet Artikel 4 Absatz 1 Grundgesetz eine abstrakte Vorrangregel zugunsten des Gewissens. Ob es sich auch im Ergebnis durchsetzt, hängt vom konkreten Gewissenskonflikt und dem konkreten Gewicht der widerstreitenden Verfassungsbelange ab. Sich typischerweise abzeichnende Gewissenskonflikte sucht die Rechtsordnung durch Bereitstellung gewissensschonender Handlungsalternativen zu vermeiden: Wer den Kriegsdienst verweigert, kann zu einem Ersatzdienst herangezogen werden. Wer sich als Zeuge aus Gewissensgründen zur Eidesleistung außer Stande sieht, kann andere Formen der persönlichen Bekräftigung wählen. An einem Schwangerschaftsabbruch muss niemand mitwirken – es sei denn, die Mitwirkung ist notwendig, um akut drohende schwere Gesundheitsgefahren von der Frau abzuwenden.

Wo sich Einzelne Rechtspflichten unter Berufung auf ihr Gewissen entziehen dürfen und auf zumutbare Handlungsalternativen verwiesen werden, wird die gleiche Bindung aller an das für alle geltende Recht relativiert. Die angemessene Bewältigung solcher Kollisionslagen ist die besondere Herausforderung des Grundrechts der Gewissensfreiheit. Wo gewissenschonende Handlungsalternativen nicht bestehen, bleibt nur die Inkaufnahme der für den Rechtsbruch vorgesehenen Sanktionen. Bei der Ahndung solcher Rechtsverstöße gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein „Wohlwollensgebot“, das bei der Bestimmung der Schuld und bei der Strafzumessung in Anschlag zu bringen ist.

„Ob gegenüber Kirchenvorständen und anderen Pfarreiverantwortlichen bei Gewährung von Kirchenasyl ein Schuldvorwurf wegen der tatbestandsmäßig und rechtswidrig begangenen Beihilfehandlung nicht erhoben werden kann, weil diese sich aus religiöser Überzeugung und aus einem unauflösbaren Gewissenskonflikt heraus auf ihr Grundrecht der Glaubensfreiheit aus Artikel 4 Grundgesetz berufen können und deshalb in einem entschuldigenden Notstand handeln“, hatte das Oberlandesgericht München 2018 noch offengelassen. Nun hat das Amtsgericht Kitzingen einen Mönch der Benediktinerabtei Münsterschwarzach freigesprochen, der einem Flüchtling aus Gewissensgründen Kirchenasyl gewährt hatte. Ob diese Entscheidung Bestand haben wird, ist noch nicht absehbar: Die Staatsanwaltschaft Würzburg, die ihn wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt ohne erforderlichen Aufenthaltstitel angeklagt hatte, hat gegen das Urteil des Amtsgerichts Kitzingen Rechtsmittel eingelegt.

Dr. Christoph Goos ist Professor am Fachbereich Verwaltungswissenschaften der Hochschule Harz in Halberstadt, 2009 wurde er in Bonn mit einer mehrfach ausgezeichneten Dissertation über die Entstehungsgeschichte des grundgesetzlichen Würdebegriffs zum Dr. iur. promoviert. Den Vortrag hielt er am 12. Februar 2021 bei der Online-Tagung der Evangelischen Akademie Hofgeismar zum Thema "Gewissen - Luther, Worms und die Folgen".

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An den Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung: Das Grundgesetz garantiert die Freiheit des Gewissens. Foto: epd
An den Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung: Das Grundgesetz garantiert die Freiheit des Gewissens. Foto: epd