Bis in die 1950er Jahre stieß die Idee der Menschenrechte in der evangelischen Theologie und den evangelischen Kirchen in Deutschland größtenteils auf Ablehnung. In der Idee der Menschenrechte sah man eine maßlose Selbstüberschätzung und Selbstermächtigung des sündigen Menschen. Aus Sicht der Kirchen war der Gedanke absurd, dass der einzelne Mensch gegenüber der gesellschaftlichen und politischen Ordnung Rechte geltend machen kann. Schließlich verstand man die staatliche Ordnung – in Anknüpfung an Luthers Rede von Zwei-Regimenten – als gottgewollte Einrichtung zur Abwehr egoistischer, böser, sündiger Absichten der einzelnen Menschen. Der gottgewollte Staat sollte sicherstellen, dass die äußere Ordnung gewahrt wird – um Raum für das Handeln der Kirche, also die Verkündigung der frohen Botschaft, zu schaffen. Menschenrechte erschienen in diesem Denken als Gefährdung des äußeren Friedens, als Widerstand gegen die göttliche Ordnung. Denn sie ermöglichen ja, staatliches Handeln kritisch zu hinterfragen und den Interessen des Individuums gegen den Staat Geltung zu verschaffen.
Als Beweis der destruktiven Macht des Menschenrechtsgedankens führte man den Verlauf der französischen Revolution an. Die Terrorherrschaft der Jakobiner schien der Kirche die logische Konsequenz aus einem Menschenbild zu sein, das ihrer Meinung nach die Sündhaftigkeit des Menschen ausblendet.
Die Erfahrungen während des nationalsozialistischen Regimes säten allerdings erste Zweifel an der Rolle des Staates. Schon die Barmer Theologische Erklärung von 1934 rüttelt am bisherigen Verständnis: Nicht der konkrete Staat gilt als göttlich legitimiert, sondern nur noch die Funktion des Staates. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wo ein konkreter Staat in der Geschichte der göttlich-gewollten Aufgabe, für Recht und Frieden zu sorgen, nicht entspricht oder darüber hinaus Macht beansprucht, kann er kritisiert und abgelehnt werden.
In den 1960er und 1970er Jahren knüpften evangelische Theologie und Kirche an diesem Gedanken an. Der neuen Generation von Theologinnen und Theologen erscheinen nun gerade die Menschenrechte als mögliches Mittel, die Grenzen staatlichen Handelns aufzuzeigen und durchzusetzen. Besonders die ökumenischen Diskussionen im reformierten und im lutherischen Weltbund wirken als Katalysator für eine westdeutsche Diskussion. Neu ist, dass die verschiedenen Stellungnahmen sich nun einig sind, dass die Idee von Menschenrechten mit dem christlichen Glauben vereinbar ist.
Wichtig ist dabei, sich die Ausgangslage vor Augen zu führen: Die Menschenrechte als moralisch-rechtliches Konzept stehen bereits im staatlichen, also weltlichen Bereich in Geltung. Die Theologie muss sich nun – quasi im Nachgang – dazu verhalten. Im Hintergrund der Debatte steht also vor allem die Frage, wie das Verhältnis von säkularer Ordnung und Christentum zu beschreiben ist. Zwei Positionen, die sich dort herausgebildet haben, und bis heute die Positionen zu den Menschenrechten in den evangelischen Landeskirchen prägen, werden im Folgenden nun vorgestellt:
Die erste Position wurde von Jürgen Moltmann entwickelt und prägte die Stellungnahme des Reformierten Weltbunds maßgeblich. Für Moltmann soll Theologie aus dem christlichen Glauben heraus begründen, warum die Menschenrechte gelten sollen, sich dabei aber bewusst bleiben, dass es auch andere Möglichkeiten der Begründung geben kann.
Moltmann vertritt hier also keine Position, die eine exklusive Ableitung der weltlichen Ordnung aus dem Christentum fordert – andere Ableitungsmöglichkeiten bleiben zunächst erhalten. Dennoch wird deutlich, dass es zu den theologischen Aufgaben gehört, Elemente der weltlichen Ordnung zu begründen. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass die Menschenrechte als säkulare Rechtssätze nicht für sich stehen können, sondern begründungsbedürftig sind. Der Grund, weshalb Menschenrechte gelten sollen, liegt nach Moltmann im „Recht Gottes auf den Menschen“, was anhand der Vorstellung der Gottebenbildlichkeit des Menschen ausgeführt wird. Vier verschiedene Aspekte verbinden sich nach Moltmann mit der Gottebenbildlichkeit:
a) Jeder Mensch ist als Ganzer von Gott zu seinem Ebenbild bestimmt. Das Mensch-Sein bleibt damit der weltlichen Ordnung entzogen: Das Entscheidende, nämlich seine Bestimmung, erhält er von Gott. Wer als Mensch zu gelten hat, ist folglich jeder rechtlichen Ordnung entzogen.
b) Mit der Gottebenbildlichkeit verbindet sich das Herrschaftsrecht und der Herrschaftsauftrag des Menschen. Das von Gott gegebene Recht jedes Menschen verbietet es, einzelnen Menschen den gerechten „Anteil an Leben, Nahrung, Arbeit, Schutz und persönlichem Eigentum“ vorzuenthalten. Zugleich ist mit dem Auftrag die ökologische Verantwortung des Menschen verbunden.
c) Die Bestimmung des Menschen zum Ebenbild beschreibt ein Ziel in der Zukunft. Es enthält also zugleich Recht auf und Verantwortung für die Zukunft. Für die Menschenrechte bedeutet das, dass auch kommende Generationen Rechte haben.
d) Ebenbild ist der einzelne Mensch als Teil der Menschheit. Nur in Gemeinschaft kann der Mensch Gott entsprechen, der selbst in seiner Dreieinigkeit Sozialität verkörpert. Daraus ergibt sich, dass Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zusammengedacht werden müssen.
Hier zeigt sich wie Moltmann „Begründung der Menschenrechte“ versteht: Es geht ihm nicht darum, allgemein zu beantworten, ob die Idee der Menschenrechte kompatibel zu christlichen Glaubensinhalten ist, sondern er möchte aus den Glaubensinhalten ein ganz konkretes Menschenrechtsverständnis ableiten, nämlich ein Konzept, in dem die drei Dimensionen individueller, sozialer und ökologischer Rechte gleichrangig nebeneinanderstehen.
Dabei interessiert Moltmann weniger das Verhältnis des Staats zu seinen Bürgern als vielmehr das Verhältnis des Einzelnen zum anderen Menschen. Die individualethische Perspektive ist der Ausgangspunkt. Aus diesem Grund spielt die Kodifizierung von Menschenrechten, ihr Rechtscharakter bei Moltmann eine untergeordnete Rolle. Ihm geht es primär um ein moralisches Projekt, um die „Menschwerdung des Menschen“. Die Geltung und Umsetzung der Menschenrechte kann nach Moltmann nur gelingen, wenn sich der Mensch ändert, seine Bestimmung erkennt und ihr gemäß lebt. Dieses Projekt entspricht nun genau dem allgemeinen Auftrag der Kirche: Die kirchliche Verkündigung führt den Menschen von seiner Sündhaftigkeit zurück in die Beziehung zu Gott, die seiner Bestimmung entspricht, und macht ihn so wahrhaftig „menschlich“.
Kern der biblischen Botschaft und entsprechend dem kirchlichen Auftrag ist der Befreiungskampf. Die Menschenrechte sind als Teil dieses Kampfes zu verstehen und gehören deshalb zur Heilsgeschichte Gottes mit dem Menschen. Auch wenn Moltmann anderen Religionen oder Weltanschauungen einen Beitrag bei der Begründung der Menschenrechte einräumt, bleibt doch gerade dadurch, dass Menschenrechte zur Kernaufgabe des Christentums erklärt werden, implizit klar, dass andere Zugänge dem christlichen unterlegen sind. Staatliches und politisches Handeln kann also letztlich in der bloßen Umsetzung dessen bestehen, was zuvor durch Kirche und Theologie entwickelt und begründet wurde.
Die zweite Position stammt von Heinz-Eduard Tödt und Wolfgang Huber, die sich ungefähr zeitgleich am Prozess im Lutherischen Weltbund beteiligten. Huber und Tödt betonen im Gegensatz zu Moltmann zunächst den säkularen Charakter der Menschenrechte und weisen auf ihre geschichtliche Entwicklung hin. Eine christliche Begründung erscheint ihnen vor diesem Hintergrund unsinnig. Stattdessen möchten sie der Frage nachgehen, wie Christen „einen gewissen Zugang zu den geschichtlich gewordenen Menschenrechten gewinnen können“ und wie sie zur Weiterentwicklung und Durchsetzung beitragen können.
Zur Umsetzung dieser Zielbestimmung soll bestimmt werden, worin christlicher Glaube und Menschenrechtsidee übereinstimmen. Zugleich soll aber die grundlegende Differenz zwischen weltlicher Ordnung und Gemeinschaft mit Gott herausgearbeitet werden. Ausgangspunkt dieser Methode ist die Überzeugung, dass der christliche Glaube durch seinen Bezug auf die Wirklichkeit Gottes immer noch mehr liefert als die säkulare Idee der Menschenrechte. Damit kann die Menschenrechtsidee unabhängig vom Glauben gedacht werden. Zugleich kann aber auch bestimmt werden, welche Aspekte der Menschenrechtsidee Christen unterstützen und welchen Tendenzen sie entgegentreten sollen. Es geht also um ein kritisch-konstruktives Verhältnis zu den Menschenrechten.
Ebenfalls im Gegensatz zu Moltmann beschäftigen sich Huber und Tödt intensiv mit dem Rechtscharakter der Menschenrechte. Sie fragen explizit danach, wie kodifizierte Menschenrechte eingeklagt werden können und bemerken dabei die Schwierigkeit, dass Abwehrrechte besser justiziabel sind als Anspruchsrechte. Dennoch befürworten sie den Rechtscharakter für beide Dimensionen, also individuelle und soziale Menschenrechte, beizubehalten. Huber lehnt es unter Verweis auf den Rechtscharakter der Menschenrechte ab, Rechte der Natur oder Rechte künftiger Generationen in den Menschenrechtskatalog aufzunehmen.
Huber und Tödt arbeiten drei zentrale Sachmomente – Freiheit, Gleichheit, Teilhabe – aus den bisherigen Menschenrechtskatalogen heraus und fordern, dass jedes Menschenrecht im Blick auf alle drei Sachmomente auszulegen ist. Ein entscheidendes Merkmal der Menschenrechte ist laut Huber und Tödt von Beginn an die Vorstellung, dass es sich um vorstaatliche beziehungsweise vorgesellschaftliche Rechte handelt. Der Staat hat die Menschenrechte also zu achten, weil sie ihm als Grenze von außen vorgegeben sind. Zugleich werden sie aber erst in staatlichem Handeln greifbar.
Wenn Menschenrechte nicht das Ergebnis politischer Prozesse sind, sondern politische Prozesse lediglich vorgegebene Vorstellungen eines allgemeinen humanen Ethos umsetzen, stellt sich natürlich die Frage, wie dieses allgemein humane Ethos gebildet wird. Naturrechtsvorstellungen werden ausgeschlossen, weil sie der Geschichtlichkeit rechtlicher Entwicklung nicht gerecht werden. Hier tritt nun die Kirche als Akteur auf. Huber formuliert, dass die Kirche einen Beitrag zur „Ausbildung eines vorrechtlichen Konsensus über grundlegende Bestimmungen der M[enschenrechte]“ leisten soll.
Dazu passend fällt auch das Ergebnis der „Analogie-Differenz-Methode“ in Bezug auf die Menschenrechte aus: Zu allen drei Momenten, also Freiheit (Unverfügbarkeit der Person), Gleichheit (Würde der Person) und Teilhabe (gegenseitige Angewiesenheit und gemeinsame Verantwortung) gibt es Entsprechungen im christlichen Glauben. Dort sind die drei Momente nur jeweils radikalisiert. So ist rechtliche Gleichheit nur „kühle Zuordnung“, wohingegen christliche Gleichheit in der Liebe gründet.
Auch wenn die weltliche Ordnung also nicht direkt aus dem christlichen Glauben abgeleitet wird, so zeigt sich doch bei genauem Hinsehen, dass über die Figur der Vorstaatlichkeit das Christentum eine ganz maßgebliche Rolle spielt. Da es die dem Staat vorgegebenen Regeln und Aufgaben mitbestimmt, ist es Staat und Politik letztlich übergeordnet – wenn auch nicht exklusiv, da andere Weltanschauungen ebenfalls am vorrechtlichen Konsens mitwirken können. Damit ist die Position von Huber und Tödt – trotz aller Unterschiede – wesentlich näher an Moltmanns Position als zunächst gedacht.
Dass christlicher Glaube und Einsatz für die Menschenrechte zusammengehören, ist heute selbstverständliche Position der evangelischen Kirche. Sowohl Moltmanns als auch Hubers/Tödts Positionen wirken bis heute nach: Auf der einen Seite sehen Vertreter der evangelischen Kirche eine ihrer zentralen Aufgaben im Bereich der Politik darin, den Staat beziehungsweise Staatengemeinschaften wie die Europäische Union zur Achtung der Menschenrechte anzuhalten. Auf der anderen Seite ist zu beobachten, dass das Thema der Menschenrechte auch mit der Frage nach individuellem Verhalten verknüpft wird.
Auch wenn die Anliegen im Einzelnen unterstützenswert sind, muss kritisch geschaut werden, welche Funktion die Berufung auf „Menschenrechte“ im gegenwärtigen Umgang der evangelischen Kirche mit dem Thema hat: Geht es darum, die Idee der Menschenrechte gegen kritische Stimmen zu verteidigen? Ihre Bedeutung – aus christlicher Überzeugung heraus – plausibel zu machen? Oder wird umgekehrt die breite Zustimmung zu Menschenrechten genutzt, um die eigene Position zu stärken? Werden Menschenrechte als Figur verwendet, um – zumindest auch – die Bedeutung der christlichen Botschaft für die Gesellschaft plausibel zu machen?
Problematisch ist, dass Gefährdungen und theoretische Probleme der bestehenden Menschenrechtskonzeptionen dabei leicht übersehen werden: Schon die Rede von „den“ Menschenrechten ist insofern schwierig, als dass sie den Eindruck erweckt, Menschenrechte seien unabhängig von gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. Tatsächlich fehlen transparente Mechanismen, um bestehende Spannungen zwischen einzelnen Menschenrechten (zum Beispiel Recht auf soziale Sicherheit und Recht auf Eigentum) zu klären. Sowohl bei der abstrakten Forderung nach Einhalten der Menschenrechte als auch beim individual-ethischen Erziehungsversuch bleibt die konkrete, politische Dimension von Menschenrechten unterbestimmt. Gerade dort, bei der Frage, wie solche Prozesse ablaufen sollen, liegen jedoch die Schwierigkeiten – die sich nicht dadurch lösen lassen, dass Kirche und Theologie als Gegenüber zur oder Wächter über die Gesellschaft auftreten. Vielmehr scheint eine Stärkung partizipativer und demokratischer Verfahren erstrebenswert, in denen die Fragilität bestehender Menschenrechtsentwürfe mitgedacht werden.
Malte große Deters ist Vikar in der Friedenskirche in Bonn-Kessenich. Er war von 2015 bis 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Redakteur der Zeitschrift für Evangelische Ethik. Der Text erschien im "Materialdienst des konfessionskundlichen Instituts Bensheim", Band 72 (2021), Heft 3.