Weihnachten ist nicht nur das Fest der Liebe, sondern auch der Klischees. Kerzenflackernde Gemütlichkeit drinnen und klirrende Kälte draußen, der Duft von Lebkuchen und Festtagsbraten, selige Kinderaugen beim Auspacken der Geschenke. Die Glocken klingen süß, der Schnee rieselt leise, am Weihnachtsbaum brennen die Lichter. An seinen Zweigen glitzert Lametta, hängen handgefertigte Strohsterne, lackierte Bratäpfel und Gurken. Wie bitte, Gurken? Ja, natürlich. Viele Amerikaner sind überzeugt, dass Gurken zur Standardausstattung deutscher Christbäume gehören.
Das jedenfalls berichtet Donnie Ashburn aus dem US-Staat Oklahoma, der seit zweieinhalb Jahren in der Pfalz lebt. Er kam nicht mit den Streitkräften, sondern weil seine Frau Aubrey in Ramstein als Sprachtherapeutin arbeitet. Der 30-Jährige beleuchtet in seinem Youtube-Kanal „Passport Two“ Unterschiede der deutschen und amerikanischen Alltagskultur. Besonders viel hat der studierte Betriebswirt über Weihnachtsbräuche zu erzählen – und über das, was seine Landsleute mit Deutschland verbinden. Zum Beispiel besagte Gurken, „Christmas Pickles made in Germany“.
„Es sind Deko-Artikel aus grünem Glas, die wir an den Christbaum hängen“, sagt Donnie. „Wir glauben, dass diese Sitte aus Deutschland stammt.“ Ein US-Lexikon gibt an, dass sie um 1880 in Thüringen erfunden wurden. Im Internet kursieren weitere Erklärungen. Eine führt die Tradition auf einen aus Bayern stammenden Teilnehmer des Amerikanischen Bürgerkriegs zurück, der in Gefangenschaft so schwer erkrankte, dass er mit seinem Tod rechnete. Als „Henkersmahlzeit“ wünschte er sich eine saure Gurke – und überlebte. Fortan, so heißt es, habe er jedes Jahr den Weihnachtsbaum mit dem Kürbisgewächs verziert.
„In manchen Familien wird eine Schmuckgurke im Baum versteckt“, berichtet der Youtuber in perfektem Deutsch. „Wer sie entdeckt, darf als erster die Geschenke auspacken.“ Tatsächlich führen in Ramstein zahlreiche Souvenir-Läden die „echten“ deutschen Weihnachtsgurken für ihre amerikanischen Kunden. Zudem haben sich Donnie und Aubrey Ashburn, die seit fünf Monaten Eltern sind, mit Dekors ausgestattet, die man in den Staaten kaum kennt. „Ich mag vor allem die Weihnachtspyramide und Räuchermännchen“, sagt er. „Spezialitäten wie Stollen, Zimtsterne, Vanillekipferl und Glühwein haben wir erst hier entdeckt.“ Sie seien in Amerika ebenso unbekannt wie Adventskranz und -kalender. Zum „Christmas Dinner“ gibt es ähnliche Zutaten wie zu Thanksgiving, das in den USA am vierten Donnerstag im November begangen wird, außerdem Plätzchen und Kuchen. Dazu gibt es „Eggnog“, eine Art Eierpunsch mit Rum, Cognac oder Whisky. Während er Schnee zu Weihnachten auch aus seiner Heimat kennt, hat der junge Familienvater das Christkind erst hierzulande kennengelernt: „Wir dachten immer, das Christkind sei Jesus in der Krippe. Aber auf dem Nürnberger Christkindlsmarkt haben wir erkannt, dass es ein Mädchen mit blonden Haaren ist. Das war eine Überraschung.“
Die hiesigen Weihnachtsmärkte haben es auch dem Ehepaar Stolzoff angetan, das seit 18 Monaten in Bann im Kreis Kaiserslautern lebt. „Heidelberg und Luxemburg sind sehr stimmungsvoll“, sagt Major Brad Stolzoff, der im Landstuhler US-Hospital arbeitet. „Der ,Christmas Market‘ in Trier hat ein magisches Ambiente. Er ist altmodisch im besten Sinn“, sagt Ehefrau Margaret. Ihren beiden Töchtern – sechs und acht Jahre alt – wollen die beiden „die wahre Weihnacht und nicht ihre kommerzialisierten Auswüchse“ näherbringen. Der „religiöse Aspekt und der geistige Gehalt“ seien in den USA weniger ausgeprägt, finden der Katholik und die Protestantin. Sie haben unlängst den Internet-Blog „Kaiserslautern Day Tripper“ übernommen, der seine über 12000 Abonnenten vorrangig mit Ausgeh- und Veranstaltungstipps bedient.
Brad und Margaret stammen aus Alabama, aber die Armee hat sie auch schon nach Alaska und Maryland geführt. In die Pfalz haben sie den Brauch des „Elf on the Shelf“ mitgebracht, also den „Wichtel im Regal“. Die männlichen, gartenzwergähnlichen Elfen kommen in der Vorweihnachtszeit über Nacht in Häuser mit Kindern. Weil sie sehr tolpatschig sind, verlieren sie überall kleine Geschenke, die morgens von den Kindern gefunden werden und so die Wartezeit bis Weihnachten erträglicher machen.
Männliche Elfen sind ohnehin die Gehilfen des US-Weihnachtsmanns. „Santa Claus“ hat mit dem Bischof Nikolaus aus dem 4. Jahrhundert nichts zu tun. Er ist ein rauschebärtiger Kinderfreund im roten Mantel, dessen mit Geschenken beladener Schlitten von Rentieren durch die Lüfte gezogen wird, damit er durch den Schornstein in die Wohnungen schlüpfen kann. Seine Ausstaffierung verdankt er übrigens dem US-Illustrator Thomas Nast, der 1840 in Landau geboren wurde und sich möglicherweise vom pfälzischen „Belzenickel“ inspirieren ließ. Den roten Mantel hat die Figur vom Grafiker Haddon Sundblom bekommen, als er sie 1931 zum Werbeträger für den Limonadenhersteller Coca Cola ummodelte. „Santa Claus“ wird von einem schaurigen Assistenten begleitet, der unartige Kinder bestraft. Der Buhmann ist eine Mischung aus dem deutschen Knecht Ruprecht und jenem „Krampus“, der als weihnachtlicher Kinderschreck im Alpenraum unterwegs und in den Niederlanden als „zwaarte Piet“ gefürchtet ist.
Oft thront diese Truppe in den Foyers der großen Einkaufszentren. Kaufen, Verkaufen und vor allem die Leuchtreklame bestimmen das klischeehafte Weihnachtsbild der meisten Amerikaner. Die aufwendigen Außendekorationen hebt sogar die deutschsprachige Internetseite „Info-USA“ hervor: „Da man es in den USA für gewöhnlich eine Nummer größer liebt, glitzert es nicht nur in belebten Straßen, soweit das Auge reicht, auch Wohnhäuser und Vorgärten verwandeln sich in Weihnachtswunderwelten voller blinkender Lichter, Kunstschnee und Rentierschlitten.“ Für die Illumination nehmen Eigenheimbesitzer hohe Stromrechnungen in Kauf. Wie Donnie Ashburn berichtet, brechen viele Familien im Pkw zu regelrechten Besichtigungsfahrten auf: „Sie nehmen Kakao mit, hören CDs mit Weihnachtsliedern und schauen sich gemeinsam den Lichterschmuck ihres Wohnviertels an.“
Das Schreiben von Grußkarten hat in den Staaten nach wie vor einen hohen Stellenwert, verlagert sich aber immer mehr ins Internet. „Das deutsche Fest ist viel familiärer und weniger kommerziell“, stellt Margaret Stolzoff fest. „Es gefällt uns besser, weil es so bezaubernd schlicht abläuft.“ Donnie Ashburn fasst die „typisch“ deutsche Weihnacht im Attribut „quaint“ zusammen, also malerisch-idyllisch, urig oder – im positiven Sinn – anheimelnd kitschig.
Wer für derlei Gefühlsdusel keinen Sinn hat, besinnt sich womöglich auf den „Grinch“, eine Kinderbuch-Figur des deutschstämmigen US-Autors Theodor Seuss. In dem 1957 erschienenen Märchen stiehlt ein grünbepelztes Höhlenwesen aus lauter Weihnachtsfrust sämtliche Geschenke einer Kleinstadt. Die erste von mehreren Verfilmungen legte der „Bugs-Bunny“- und „Schweinchen-Dick“-Erfinder Chuck Jones anno 1966 vor. Seitdem gehört sie alle Jahre wieder zum Festprogramm der amerikanischen Fernsehsender. Rainer Dick