von Pfarrer Martin Schuck
Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, Herr! Du bist zornig gewesen über mich. Möge dein Zorn sich abkehren, dass du mich tröstest. Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht; denn Gott der Herr ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil. Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Brunnen des Heils. Und ihr werdet sagen zu der Zeit: Danket dem Herrn, rufet an seinen Namen! Machet kund unter den Völkern sein Tun, verkündiget, wie sein Name so hoch ist! Lobsinget dem Herrn, denn er hat sich herrlich bewiesen. Solches sei kund in allen Landen! Jauchze und rühme, die du wohnst auf Zion; denn der Heilige Israels ist groß bei dir!
Jesaja 12, 1–6
Dieser Text ist eine Überraschung. Mitten im Prophetenbuch steht ein Psalm, den man eher im Psalter bei den 150 anderen Psalmen vermutet. Die Frage lautet deshalb: Was macht der Psalm hier? Da Propheten keine Psalmen singen, muss ein anderer diesen Psalm im Jesajabuch platziert haben – vermutlich, weil er so gut hierher passt.
Der entscheidende Hinweis steht gleich im ersten Vers: „Zu dieser Zeit wirst du sagen.“ Also gilt es zu schauen, was vor unserem Psalm steht. Es ist die berühmte Weissagung vom kommenden Messias und seinem Friedensreich. In ergreifenden Bildern wird beschrieben, wie nicht nur Feindschaften zwischen Menschen und Völkern, sondern auch zwischen Mensch und Tier ein Ende haben und ein Zustand des friedlichen Zusammenlebens wirklich wird. Eine schöne Vision, die bis in unsere Zeit eine Vision geblieben ist und wohl erst im Reich Gottes verwirklicht ist.
Diese Weissagung des Propheten wird durch unseren Psalm bestätigt und in eine bestimmte Richtung gelenkt. Der Sprecher des Psalms dankt Gott ausdrücklich für dessen früheren Zorn und dafür, dass dieser Zorn irgendwann zu Ende war und Gott ihn jetzt tröstet. Mit diesem Gedankengang: Gott ist zornig, überwindet aber seinen Zorn und wendet sich demjenigen, auf den er zornig war, wieder gnädig und tröstend zu, ist eine entscheidende Linie durch das gesamte Alte Testament gezogen. Sie beschreibt das Verhältnis Gottes zu seinem Volk Israel.
Mit Abraham wurde der Bund Gottes mit Israel geschlossen, mit dem Auszug aus Ägypten wurde die Verheißung auf das Land eingelöst, und mit den Zehn Geboten wurde eine Sozialordnung begründet, die sowohl das Verhältnis der Israeliten zu Gott als auch untereinander regeln sollte. Diese Ordnung wurde ständig verletzt, und zwar nach folgendem Muster: Zunächst fielen die Israeliten von Gott ab und wendeten sich anderen Göttern zu, dann folgte aus diesem Abfall von Gott auch die Verletzung der Sozialordnung. Daraufhin gab Gott sie in die Hand ihrer Feinde, und wenn die Unterdrückung durch diese groß genug war, erinnerten sie sich wieder an Gott, flehten zu ihm und bekamen Hilfe. Diesen Zusammenhang erkannte der Prophet Jesaja und wollte mit seiner Botschaft die Menschen zur Umkehr bewegen.
Die Deutung der Geschichte Gottes mit seinem meist undankbaren Volk setzt voraus, dass Gott fähig ist, eine ganze Bandbreite von Emotionen auszuspielen. Er wird in bestimmten Situationen zornig und bestraft denjenigen, auf den er zornig ist. Aber irgendwann ist sein Zorn auch verflogen, und er bereut seine harte Strafe. Dann tröstet er sein Volk und bietet die Möglichkeit zur Versöhnung.
Diesen Zusammenhang reflektiert der Psalm, und so kann im Gottesdienst, wo dieser Psalm gesprochen wird, Gott als Heilsbrunnen verstanden werden, aus dem man Wasser schöpfen kann. Und nur vor dem Hintergrund des Bekenntnisses zu dem Gott, der durch sein strafendes Handeln sich als stark, aber auch als gnädig erweist, kann auch für den Zorn Gottes gedankt werden. Ohne diesen vorausgehenden Zorn wären die Heilstaten Gottes womöglich niemals als solche erkannt und deshalb als selbstverständlich hingenommen worden. Einen Gott, der nicht zornig werden kann, der keine Reue zeigt und der nicht tröstet, braucht eigentlich niemand; er verliert sich im Lauf der Geschichte bis zur Unkenntlichkeit.
Die Weissagung auf den Messias und sein Friedensreich, die unserem Psalm vorausgeht, wird seit den Zeiten der frühen Christenheit mit dem Kommen Jesu Christi als erfüllt betrachtet. Aber im christlichen Glauben ist mit dem Kommen Jesu Christi nicht nur die Geburt des Kindes in der Krippe gemeint, sondern auch das Wiederkommen des auferstandenen Christus am Ende der Zeit als Weltenrichter. Deshalb liegt diese Verheißung auch uns immer noch voraus, und wir dürfen deshalb in unserer friedlosen Zeit auf Gottes Friedensreich hoffen und für dieses beten.
Dr. Martin Schuck arbeitet im Bildungsbereich der Landeskirche und ist Lehrbeauftragter an der Universität Landau.
Gebet
Herr, unser Gott, wir danken dir für das Kommen deines Sohnes, in dem für uns dein Friedensreich angebrochen ist. Wir bitten dich. Öffne die Herzen der Mächtigen, damit Frieden möglich wird, bevor sich die Welt wieder an den Krieg gewöhnt. Amen.