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|   Dokumentation

Demokratie braucht unabhängige Medien

Desinformation im Digitalen gehört mittlerweile zu den großen Herausforderungen unserer Zeit

Die Medienrezeption, unser Informationsverhalten und unsere Kommunikation haben sich immer mehr ins Digitale verschoben – und von den etablierten Medienhäusern hin zu marktmächtigen Plattformen wie Facebook, Twitter & Co. Das betrifft auch die politische Kommunikation. Um es vorweg zu nehmen: Für mich als Digitalpolitikerin und ehemalige Journalistin stellt sich nicht die Frage: „Twitter oder Tagesschau?“ Für mich gilt: „Twitter und Tagesschau“. Und beides hat Vor- und Nachteile.

Vor allem bei der politischen Basisarbeit, als Kommunalpolitikerin oder gerade auch für Ehrenamtliche ist der Zugang zu traditionellen Medien begrenzt. Hier haben die Plattformen, vor allem Twitter und Facebook, inzwischen auch Instagram, tolle neue Möglichkeiten geschaffen, um an die Menschen heranzutreten und mit ihnen direkt zu kommunizieren, politische Botschaften zu setzen, Veranstaltungen bekannt zu machen und sich zu vernetzen. Der direkte Zugang zur Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern – das ist eine äußerst wertvolle Errungenschaft.

Andererseits haben die Entwicklungen der vergangenen Jahre einmal mehr gezeigt, welche Bedeutung freie, unabhängige Medien für eine informierte Gesellschaft und den demokratischen Meinungsbildungsprozess haben. Desinformation im Digitalen gehört mittlerweile zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Hasskriminalität beeinträchtigt massiv den demokratischen Diskurs und spaltet zunehmend die Gesellschaft. Die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben diese Phänomene weiter befeuert. So hat mich etwa der Selbstmord der österreichischen Ärztin nach systematischen Angriffen im Netz durch Impfgegner tief betroffen gemacht.

Wir müssen wahrnehmen, dass Diskussionen in Schieflagen geraten oder dass es sie – etwa aus Sorge vor sogenannten „Shitstorms“ – erst gar nicht gibt. Studien zeigen: Jede und jeder zweite junge Erwachsene zwischen 18 und 35 Jahren war bereits von digitaler Gewalt betroffen. Immer mehr Nutzerinnen und Nutzer ziehen sich deshalb aus Debatten und von Plattformen zurück.

Diesen Entwicklungen müssen wir uns dringend entgegen stellen und für einen freien, offenen Diskurs im Netz kämpfen. Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz wurde vor fünf Jahren der grundsätzlich richtige Anfang gemacht – auch wenn dieses Gesetz einige Schwächen hat. Mit dem Digital Services Act, dem Digital Markets Act und dem European Media Freedom Act wird es weitere Instrumente geben, um gegen Desinformation und Hasskriminalität vorzugehen und freie, unabhängige Medien in Europa zu stärken.

Als Politikerin versuche ich, neben dem Bedienen der klassischen Medien auch die Vorteile der digitalen Plattformen zu nutzen und mich nicht zu sehr von den Schattenseiten abschrecken zu lassen. Ein kurzer Tweet bei Twitter kann manchmal sogar die klassische Pressemitteilung ersetzen, wenn er journalistisch aufgegriffen wird. Auf der anderen Seite kann ein kurzes Statement (bewusst) falsch verstanden werden, wenn die Einordnung fehlt. Und es besteht natürlich immer auch die Gefahr, auf den sogenannten sozialen Netzwerken zu schnell mal was rauszuhauen, ohne einen Sachverhalt ausreichend durchdacht zu haben, oder auch emotional zu reagieren. Nicht nur Politiker:innen müssen hier sehr umsichtig sein.

Plattformen können aber die klassische journalistische Arbeit allerhöchstens zu verbreiten helfen, aber nicht ersetzen. Journalist:innen tragen Informationen zusammen, prüfen sie und berücksichtigen unterschiedliche Perspektiven. Und auch hier gibt es einiges zu tun. Journalistische Angebote sind seit Jahren unter Druck, immer weniger Menschen sind bereit, dafür zu zahlen.

Das ist ein Problem, denn gute Recherche kostet. Machten früher die Werbeeinnahmen zwei Drittel der Einnahmen der Medienhäuser aus, hat sich das Verhältnis zwischen Werbe- und Abonnenteneinnahmen umgekehrt. Ganze Redaktionen wurden geschlossen, gerade in kleinen Gemeinden. Wenn aber eine Regionalzeitung nicht mehr detailliert berichtet, dann stellt sich die Frage nach ihrem Mehrwert. Ich finde: Guten Journalismus müssen wir stützen, neue Wege der Finanzierung auftun. Dazu gehört etwa auch die Idee des Gemeinnützigen Journalismus oder die Finanzierung über Stiftungen.

Eine wichtige Bedeutung kommt dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu. Er ist nicht von Werbeeinnahmen abhängig, sondern wird von der Gesellschaft, von uns allen, finanziert. Ihn müssen wir stärken und ihm die Möglichkeit geben, sich ins Digitale zu entwickeln. An ihn stellen wir zu Recht hohe journalistische Anforderungen, weil er verlässlich und der Wahrhaftigkeit verpflichtet ist. Er stellt daher ein Gegengewicht zu den großen, der Marktlogik folgenden Internetkonzernen und kann eine Schlagkraft gegen Desinformation im Netz entwickeln. Dazu muss sein Auftrag nachjustiert und sein öffentlich-rechtliches Profil geschärft werden. Zu einer grundlegenden Reform gehört auch, die Aufsichts- und Kontrollmechanismen zu verbessern. Bei aller berechtigten Kritik und nach einzelnen Verfehlungen sollten wir nicht das öffentlich-rechtliche System grundsätzlich in Frage stellen, sondern ihn verbessern. Woanders beneiden sie uns um dieses System wie in den USA, wo es nur ein marginalisiertes öffentliches Angebot gibt.

Journalismus darf, ja muss sich immer auch selbst überprüfen. Es geht im digitalen Zeitalter vor allem um Einordnung. Und um die selbstkritische Frage, wie über bestimmte Themen berichtet wird. Das wurde im Zusammenhang mit der Pandemie oder dem Ukrainekrieg besonders deutlich. Hier muss Journalismus lernfähig sein. Wie etwa in der Ukraine-Berichterstattung der ARD, in der immer wieder drauf hingewiesen wurde, dass die vorhandenen Bilder nicht verifiziert werden konnten.

In der Konkurrenz zwischen Plattformen und traditionellen Medienangeboten müssen wir ehrlich sein: Die Marktmacht von Google und anderen Internetgiganten bedeutet auch Meinungsmacht. Umso wichtiger ist Regulierung und mehr Transparenz, wie der Medienstaatsvertrag sie einfordert. Was den Werbemarkt angeht, hätte es meiner Ansicht nach eine größere Einschränkung des Micro-Targeting bedurft.

Der Digital Services Act macht den Plattformbetreibern zwar Vorgaben hinsichtlich der Datennutzung und verbietet die Erhebung von sensiblen Daten hinsichtlich der Religionszugehörigkeit, der Hautfarbe, sexueller Orientierung oder politischer Einstellung zu Werbezwecken, trotzdem können mit Hilfe detaillierter Datenprofile Inhalte zielgenau ausgespielt werden. Dies führt zu einer weiteren Individualisierung und Fragmentierung im Internet und schränkt den breiten gesellschaftlichen Diskurs weiter ein. Der Gesetzgeber wird die Entwicklungen weiter beobachten müssen und gegebenenfalls nachschärfen müssen, um Marktmacht und die Gefahr von Manipulation zu verringern und einen freien Meinungsbildungsprozess zu gewährleisten.

Tabea Rößner (Bündnis 90/Die Grünen) ist Vorsitzende des Ausschusses für Digitales des Deutschen Bundestages.

Den Vortrag hielt sie bei den Südwestdeutschen Medientagen am 29. Juni 2022 in Neustadt an der Weinstraße.

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Die Tagesschau-App: Öffentlich-rechtliche Sender sollen sich ins Digitale entwickeln können. Foto: epd
Die Tagesschau-App: Öffentlich-rechtliche Sender sollen sich ins Digitale entwickeln können. Foto: epd

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